Diskussion um deutsche Asylpolitik: wie sich die Willkommenskultur in der Flüchtlingshilfe wandelt

Max Sprick

31.10.2023, 17.46 Uhr 4 min

Weil nach wie vor sehr viele Asylbewerber nach Deutschland kommen, will die Regierung härter und schneller ausschaffen. Das sorgt für Kritik - aber auch für Zustimmung bei Menschen, die bislang den Migranten halfen.

Oktober 2015: Ein Polizeiwagen begleitet eine Gruppe Migranten auf dem Weg in ein Registrierungscenter nahe der deutsch-österreichischen Grenze.
Michael Dalder / Reuters

Dennis Riehle arbeitet seit acht Jahren ehrenamtlich als Flüchtlingshelfer, doch nun plagt ihn immer mehr der Eindruck, dass Asylsuchende Gutmütigkeit und Naivität ausnutzen. Als 2015 die Flüchtlingswelle nach Deutschland rollte und die damalige deutsche Kanzlerin Angela Merkel sagte: "Wir schaffen das", war Riehle das zu pauschal. Als Sozialberater hatte er schon immer mit Menschen zu tun, die eher am Rand der Gesellschaft stehen. Da wollte er seinen eigenen Beitrag leisten und begann, sich für die vielen Migranten zu engagieren. Weil sich "das" nur schaffen liesse, "wenn sich möglichst viele bereit erklären, Unterstützung bei der Aufnahme der Ankommenden zu leisten", sagt Riehle. Der 38-Jährige war und ist einer von vielen Migrationshelfern. Nun ist er auch einer von vielen, die die Migrationshilfe kritisch sehen.

Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz forderte neulich im "Spiegel": "Wir müssen endlich im grossen Stil diejenigen abschieben, die kein Recht haben, in Deutschland zu bleiben." Die regierende Ampelkoalition beschloss vergangene Woche ihrer Meinung nach wirksamere Bestimmungen bei der Ausschaffung abgelehnter Asylbewerber. Das Bundeskabinett billigte einen entsprechenden Entwurf von Innenministerin Nancy Faeser, die sagte: "Wer kein Bleiberecht hat, muss unser Land wieder verlassen." Die FDP-Minister Christian Lindner und Marco Buschmann forderten ausserdem, dass die finanzielle Unterstützung für Asylsuchende verringert und in bestimmten Fällen sogar gestrichen wird.

Einst applaudierten Menschenmengen an Hauptbahnhöfen

Dennis Riehle.

Kritik kam unter anderem aus der eigenen Partei des Kanzlers. Der Jugendverband der SPD, die Juso, die 49 junge Abgeordnete in der Bundestagsfraktion stellen, schrieben auf X, vormals Twitter: Scholz bediene sich aus dem "Vokabular des rechten Mobs". Die stellvertretende SPD-Chefin Serpil Midyatli kritisierte im "Tagesspiegel": "Das Fordern von Abschiebungen im grossen Stil ist nicht nur unsolidarisch, sondern spielt am Ende den Falschen in die Hände."

Und der Flüchtlingshelfer Dennis Riehle? Der appelliert an die Politiker, "zügig zur Rechtsstaatlichkeit zurückzukehren, damit wir endlich wieder Kapazitäten für jene frei haben, die diese aus Humanität und Schutzlosigkeit dringend benötigen".

2015 hatte er sein Büro in Konstanz als Anlaufstelle zur Verfügung gestellt, wo er unentgeltlich half bei Übersetzungen, der Vermittlung von Ärzten oder Anwälten, beim Ausfüllen von Anträgen, beim Erklären von Gepflogenheiten und Regeln, beim Lotsen durch den Dschungel der verschiedenen Ämter. Die Flüchtlinge berichteten ihm von Traumatisierungen und Leidenswegen in ihren Herkunftsregionen. Sie suchten in Deutschland Zuflucht vor Unterdrückung und Gewalt. 2015 etablierte sich in vielen Teilen der Gesellschaft eine Willkommenskultur, an den Hauptbahnhöfen in München, Frankfurt am Main oder Hamburg applaudierten und sangen Menschenmengen für ankommende Flüchtlinge, die dem Krieg in Syrien entflohen waren.

Heute stammten die Ankommenden vermehrt aus dem afrikanischen Raum, sagt Riehle. Sie verträten die Ansicht, dass "der Westen" sich durch seine kolonialistische Geschichte vor allem in Afrika schuldig gemacht habe. Dass er Rohstoffe abgreife und auf Kosten der südlichen Hemisphäre wirtschaftlichen Wohlstand generiert habe. Da sei es gerechtfertigt, dass man im Gegenzug Offenheit für Flüchtlinge zeige und diese aufnehmen "müsse". Riehle sagt, es gehe ihnen viel um Ansprüche: welche Leistungen man als Schutzsuchender bekommen könne, wie man ein Handy und Bargeld erhalte, ob man arbeiten müsse und was man gegen Abschiebung unternehmen könne.

Asylsuchende haben Verständnis für Scholz' Forderung

Er habe mit Asylsuchenden auch über des Kanzlers Aussagen gesprochen. Einige hätten "tatsächlich auch Verständnis" für Scholz' Forderung geäussert. Denn sie litten unter der "massiven Überbelastung der deutschen Kommunen - und beschreiben ihre Unterbringung als unwürdig", sagt Riehle. Er selbst empfindet die Scholz-Forderung als populistisch: "Wenn wir ehrlich bleiben, wissen wir, dass ohne eine Übereinkunft mit den Herkunftsländern kaum mehr Abschiebungen möglich sein werden."

Seit 2018 oder 2019 habe er immer öfter von den Ankommenden gehört, dass sie aus sozialen oder wirtschaftlichen Gründen Asyl suchten. "Und ohne Zweifel: Auch sie berichten von überaus schwierigen Lebensbedingungen", sagt Riehle. "Dass sie verfolgt, unterdrückt oder mit Gewalt bedroht sind, das höre ich aber immer seltener." Wohl auch, weil vermehrt Menschen vom afrikanischen Kontinent ankämen - weniger häufig aus Afghanistan, Syrien oder dem Irak.

"Allerdings vernehme ich auch bei Flüchtenden aus den arabischen Ländern nicht mehr pauschal, dass sie durch Krieg oder Diktatur vertrieben wurden, sondern sich schlichtweg auch nach einem besseren Leben sehnen." Das sei kaum verwerflich und menschlich völlig nachvollziehbar. "Ich wünsche mir auch das Paradies auf Erden für jeden von uns. Doch diese Utopie werden wir nicht erreichen, auch wenn diese Einsicht enttäuschend ist."

Er bemerke "unbedingt" in seinem Kollegenumkreis, dass sich die einstige Willkommenskultur verändere. "Die einen sind schlichtweg mit der Situation überlastet und kommen an ihre physischen wie psychischen Grenzen", sagt Riehle. Bei anderen habe sich auch ein ideologischer oder politischer Perspektivenwechsel eingestellt. Er erlebe weiterhin eine hohe Bereitschaft zur Humanität - "aber eine wachsende Ablehnung gegenüber denen, die sich unberechtigt nach vorne drängen".

Die Ansichten Riehles scheinen auch in der Politik geteilt zu werden. Am Mittwoch forderte der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) in der "Süddeutschen Zeitung", dass ein neuer Ansatz mit Asylverfahren ausserhalb Europas ernsthaft diskutiert werde. "Irreguläre Migration muss beendet werden, damit wir denjenigen Menschen gerecht werden können, die wirklich unsere Hilfe brauchen, weil sie vor Krieg und Vertreibung fliehen", sagte Wüst. Am 6. November gibt es einen Bund-Länder-Gipfel vor allem zur Asylpolitik.


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